Atlantismechanismen


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„ATLANTISMECHANISMEN - WANDSITUATIONEN“

Galerie Bamberger, Mannheim, 9. Oktober 1993

Die kulturelle Erinnerung ist ein riesiger Kontinent, für den es unzählige Eroberer gibt und geben wird und von denen jeder neue Gesichtspunkte oder unerforschte Landschaften entdecken wird, um sie dann neu zu interpretieren. Diese Zugehensweise stellt eine unerschöpfliche Quelle dar, die für Künstler immer faszinierend bleibt; sie bietet ein Repertoire von Bildern, die sich immer wieder erneuern und die bereichert werden durch Entdeckungen, die die Künstler machen oder noch machen werden.

Eine dieser Entdeckungen der kulturellen Erinnerung sind die „Atlantismechanismen“ von Uwe Büchler, bei denen die Kunst wieder in Bezug zur Archäologie gesetzt wird. Die Archäologie hat es immer mit unsichtbaren Speicherungen zu tun, von denen nur zufällige Bruchstücke ans Licht kommen. Die ausgestellten Kulturzitate, diese Fragmente des Ver- und Zerstreuten verweisen auf eine untergegangene Epoche, die anscheinend über eine hochentwickelte Technologie verfügte, welche für den Betrachter allerdings nie ganz einsichtig und benennbar wird. Zum Selbstverständnis dieser „Spurensicherung“ Uwe Büchlers gehört die scheinbare Wissenschaftlichkeit. Er gräbt aus, legt Inventare und Bestände an. Büchler ist dabei nicht an historischer Genauigkeit und schon gar nicht an objektiver Wiederherstellung oder Wiedergabe interessiert. Er geht allein von sich aus, wählt das Objekt, den Ausschnitt und die Technik. Er zieht sich hinter die Anonymität des Forschers zurück, um seinen persönlichen Ansatz desto ungestörter und präziser auszuarbeiten. Dabei wird dem Gegenstand durchweg eine gewisse Undurchdringlichkeit, eine Präsenz ohne Tiefgang zurückgegeben. Die Objekte werden Ausgangspunkte einer strukturalen Überlegung, da das Zufällige der Entdeckung statistisch für die Wahrscheinlichkeit einer Verallgemeinerung spricht.Man nimmt das „objet trouvè“ als repräsentatives pars proto einer allgemein-gesellschaftlichen Befindlichkeit. Sofern Büchler seine eigenen Gegenstände herstellt, haben sie etwas Abgeleitetes, Scheinobjektives.

Der Aura und pittoresken Ausstrahlung des realen Fundstücks ausweichend, verschanzen sie sich hinter Verschüttungen und Lavaasche. Exaktheit ist so stets ein Vorwand für Persönliche Dokumentation und Selbstbefragüng. Es soll etwas über den Menschen ermittelt werden, das die Wissenschaft wegen ihrer Spezialisierung und beweisabhängigen Rationalität nicht erarbeiten kann: eine Schärfung des Sinnes für die Zusammenhänge von Leben, Zusammenleben, Zeit und Imagination. Die Arbeiten von Uwe Büchler sind von einem Rationalismus geprägt, der mit dem Irrationalen rechnet und die beiden Diskurse miteinander zu verbinden sucht. Es kann dabei nicht um einen bloßen Pluralismus gehen und eine Heterogenität aus Verlegenheit; das hätte relativierende Folgen und nähme der Vielfalt die Stärke, sondern es geht um eine Synthese, eine organisierte Aufhebung der Antagonismen zwischen den sogenannten Wissenschaften der Vernunft und dem Anderen, dem Mythos und der Erfahrung. In einem zweiten Werkprozeß werden von Büchler die Atlantismechanismen, diese Fossilien einer untergegangenen Kultur mit Landkarten kombiniert, auf denen die Fundorte der archaischen Fragmente markiert werden. Die den Fundstücken unterlegten Landschaften sind mittels des Computers und eines Fraktalgenerators imaginierte virtuelle Welten und haben wie die Relikte der untergegangenen Epoche keinen Referenten in der Geschichte der Wirklichkeit. So sind die „Wandsituationen“ Büchlers Beispiele gewollter, provozierter Ungleichzeitigkeit, die der Tyrannei der Zeit und der Geschichte entkommen, indem sie trotz ethnographischer und archäologischer Mimikry ein „Museum ohne Geschichte“ kreieren.

Eine wichtige Rolle für die Verbreitung solchen Denkens und dessen Einfluß auf die Kunst spielt die französische Historiographie, unter dem Namen der „Nouvelle Histoire“ bekannt. In der „Nouvelle Histoire“ verlagerte sich das Schwergewicht der Forschung vom Ökonomischen und Sozialen weg auf die Sphäre der Kulturgeschichte. Es schien den Historikern notwendig, den Verlauf großer Zeiträume und nicht-datierbarer Geschehnisse nachzuvollziehen. Man studiert ideologische Wechsel anhand von Sprachen, Gewohnheiten und dem Wandel der Mentalitäten. Man verläßt den Diskurs über eine Epoche und dringt statt dessen in den Diskurs der Epoche ein, und man erörtert dabei, in wie weit das Imaginäre auf das tatsächliche politische Geschehen und soziale Verhalten Einfluß haben konnte.

In den Naturwissenschaften vollzog sich längst Ähnliches wie in der Historiographie. Physiker richten ihre Aufmerksamkeit auf die sogenannten chaotischen Zustände der Materie und auf bisher nicht meßbare Phänomene, nicht allein in der Atomphysik, sondern auch in der klassischen Mechanik etwa dort, wo Wolkenbildungen, Wirbel und Strömungen untersucht werden. Renè Thom prägte den Begriff von der Theorie der Katastrophe für die Mathematik, und Benoit Mandelbrot wurde bekannt für die Geometrie des Fraktalen, eine Alternative zur euklidischen Geometrie, die die Dinge auf einfachste Elementarformen reduziert, um sie zu messen. Jetzt sieht man sie so, als seien sie sehr kleine, komplexe unregelmäßige Gebilde, die sich zu großen mit absolut gleicher Struktur zusammensetzen. Es ist eine Geometrie, in der es zwischen dem Kleinsten und dem Größten keine Strukturunterschiede mehr gibt. Büchler bezieht sich ausdrücklich auf solche naturwissenschaftlichen Kontexte, wenn die Atlantismechanismen mit fraktalisierten Bildoberflächen kombiniert werden.

Die vom Computer erzeugten, farbigen Kopien können bei Büchler in einem dritten Schritt zusätzlich mit seriell angelegten, meist nichtfarbigen, geometrischen Elementen in Beziehung gebracht werden. Sie konterkarieren den Eindruck einer nicht mehr berechenbaren Unregelmäßigkeit durch das Rationale, Klare, Durchschaubare. Ein streng abgestufter Aufbau macht aus ihnen ornamentale Monumente im Sinne eines abstrakten Klassizismus. Eine zusätzliche Semantisierung erfahren die imaginären Welten der Simulation durch eine Vergitterung des Landschaftraumes, so daß der Betrachter quasi wie durch ein Fenster auf die Wandsituationen blickt.

Bei dem französischen Philosophen Michel Serres fand ich das Dictum: „Ich spreche mit vielen Zungen.“ Die Vermischung der Sprachen bedeutet Sprachkritik und Spracherneuerung zugleich. Indem man nämlich mehrere Sprachen und die mit ihnen verklammerten Inhalte zusammenfügt, machen wir uns deren Historizität und Zeitgebundenheit bewußt. Eine erste kritische Distanz dieser Art hatten schon der Strukturalismus und die Zeichentheorien während der siebziger Jahre geschaffen. Aber heute werden Strukturen und Zeichen nicht mehr entleert und analysiert; sie werden wieder mit Inhalten gefüllt, mit Legenden, Gestalten, Parabeln. Rückbezüge auf frühere Kulturen sind dabei ebenso häufig wie Anspielungen auf die Avantgarden. In diesem Sinne will die Kunst Büchlers das logische, gradlinige, systematische Denken und die Dialektik mit dem Vermutbaren, dem Mythischen und dem Historischen verschmelzen. Deshalb wird in seiner Kunst der heterogenen Formen auch der Gedanke zurückgewiesen, daß es noch so etwas wie Ausschließlichkeit im Hinblick auf die bildnerischen Sprachen gibt. Auf der einen Seite also etwa eine konstruktive, geometrische Sprache, die für die geistige Ordnung der Welt, für ihr metaphysisches Gerüst steht, auf der anderen Seite narrative, expressive oder phantastische Ausdrucks formen, die das Unbewußte und das Subjektiv-Emotionale in sich bergen.

Charakteristikum für Büchlers Kunst sind Mischkonstruktionen. Anstatt sich auf ein einziges Darstellungssystem und dessen Zeichen zu beschränken, hat er sich für die Multiplikation und die Fragmentierung der Sprachen entschieden, in denen Wissen und Mythos, Struktur und Kultur, Rationales und Irrationales nicht länger getrennt sind.

Werner Marx
Kunsthalle Mannheim



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