» ZWEIGLEISIG «


Katalogtext


Werner Marx, Mannheim


Es gibt verschiedene Typen von Geistesmenschen; zwei davon erwähnt Jacob Burckhardt in einem Brief vom 21. Februar 1865: »Wenn Sie nicht bis zu einem hohen Grade »Gedächtnismensch« werden, so bleiben Sie ein Dilettant.« Dilettant ist hier nicht als Schimpfwort gemeint, es ist eine Ermahnung, gründlich zu studieren. Burckhardt selbst wiederum nannte sich einen »Erzdilettanten«. Der Zusammenhang läßt sich leicht herstellen: Der Dilettant und der »Gedächtnismensch« unterscheiden sich graduell; ein Erzdilettant aber ist, wer die Grenzen seines Fachs überschreitet. Dieses Grenzgängertum heißt heute interdisziplinäres Forschen. Wahre Geschichtsschreibung, meint Burckhardt, verlange ein »Leben in jenem feinen, geistigen Fluidum…, welches aus Monumenten aller Art, aus Kunst und Poesie ebensogut dem Forscher entgegenweht wie aus den eigentlichen Scriptoren…« Das Glück des Gelehrten liegt in den Quellen. Im Kontext dieser Quellenkunde entwickelt das von bildenden Künstlern benutzte Foto seine eigene Ästhetik – eine medienspezifische Sicht, die im technischen Verfahren, der Reproduzierbarkeit und Manipulierbarkeit des Bildes begründet ist. Die bevorzugte Darstellung ist die Reihe – Serie, Zyklus, Variationsfolge –, und sie wiederum bedingt genormte Formate und serielles Rahmen, was zum kompositorischen Prinzip bei der Hängung und zu einer zunehmenden Formalisierung der Fotokunst führte. Kein Wunder, sie bringt auch ihren eigenen Künstlertypus hervor: den Dokumentaristen, Enzyklopädisten und Archäologen. Denn spätestens seit Foucault die Archäologie zu einer »geisteswissenschaftlichen« Methode erhoben hat, liegt in den Quellen wieder ein Geheimnis und in ihrer Erforschung ein kleines legitimes Glück; die Archive locken die computergestützten »Gedächtnismenschen« in die Untiefe ihrer Daten.


Auf einer Stahlbahn, zusammengesetzt aus zehn Rahmen, hat Gert Wiedmaier 24 überarbeitete fotografische Filme präsentiert, die abwechselnd Barockfiguren aus dem Schloßpark und Luftbildaufnahmen der Stadt Schwetzingen zeigen, so daß der Eindruck eines durchlaufenden Films mit einem harten Schnitt nach jedem Bild entsteht. Der Betrachter schaut einmal von oben auf ein anonymes Stadtgebilde aus den fünfziger Jahren, um dann von unten, aus der Froschperspektive einen Skulpturenpark ins Auge zu nehmen, der zeitabhängig mit dem vergangenen barocken Glanz der Stadt assoziiert wird. Erschwert wird die Wahrnehmung des Betrachters durch Wiedmaiers »alchemistisches« Verfahren, die Fotos auf Stahlbleche aufzukaschieren, mit Wachs, Schellack und Pigmenten so zu bearbeiten, daß die Luft- und Bodenaufnahmen eine Aura vom langsamen »Schwinden der Dinge« bekommt. Die Gesten, mit denen die Bildherstellung vollzogen wird, entsprechen dabei der Doppelbewegung von Konstruktion und Destruktion. Demnach ist die von der Fragilität mancher Bilder eingegebene Vermutung, es handle sich um Vanitas-Metaphern, ergänzungsbedürftig. Der materiellen Auflösung wirken die Widerstände des Bewahrens entgegen. »Was ich berühre, zerfällt« – diesem tragisch anmaßenden Wort Kafkas muß man die Entschlossenheit Picassos gegenüberhalten (»... und wenn ich meine Bilder mit der feuchten Zunge auf den staubigen Boden meiner Zelle malen müßte«), um den dialektischen Kräftehaushalt dieser Blickfelder in seinem ganzen Umfang aufzuspüren. Die Fotos sind also Gratwanderungen. Hermetisch Verschlossenes steht neben indiskreter Entblößung. Mutwillige Schrammen reißen die Oberflächen auf. Immer ist hinter der sichtbaren Oberfläche die »chimie des profendeurs« (Gaston Bachelard) spürbar. Dem Aufdecken antwortet das Überdecken, das bedächtige Zusammenschichten. Es will verbergen, bewahren, das Zerfallende befestigen. Dazu kommen die scheinbar zerstreuten Gesten des Auslöschens, Wegwischens. Wenn es richtig ist, daß Wiedmaiers Bilder vom Einverständnis konstruktiver und destruktiver Impulse getragen werden, dann sind sie Variationen über das Gespräch, das der Künstler mit sich selbst führt. Er begreift sich als Hersteller und als Zerstörer. Der Künstler ist ein Täter, der das Herstellen mit dem Zerstören koppelt.


Der Bilddiskurs der Massenkultur, dem Filmischen sehr nahe, hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, die Künstler haben ihn benutzt, um das Verhältnis von Form und Inhalt forschend zu gestalten. Parallel zu der Installation Wiedmaiers zeigt Uwe Büchler auf seiner Stahlbahn gleichen Ausmaßes 21 grüne Farbkörper, die unter transparenten Polyesterabdeckungen liegen. Die Formen der Farbkörper wiederholen sich nicht, reagieren aber aufeinander, indem sie nach Art eines Puzzles zusammengesetzt werden können. Die konvexen Polyesterhauben errinnern in einer ersten Assoziation an Bildschirme und verwandeln die darunter liegenden vollplastischen Segmente in »Bilder«, machen sie zu Zeichen, die allerdings keine Referenten in der Realität besitzen müssen. So wird in einer Art Modell der Bilderstrom der Serie virtualisiert. Die Suggestivität, die hier am Werke ist, ist dem Bilddiskurs nicht ganz unähnlich, auch wenn ein Großteil des Erzählverlaufs in die Vorstellung verlegt wird. Ein Modell muß ähneln. Daß es abbildet, ist notwendige Bedingung seiner Funktion. Und es ist gerade diese Eigenschaft, die das dreidimensionale Gestalten für Büchler interessant gemacht hat. Das Abbild erlaubt den Verweis auf Realität. Doch die Ähnlichkeit ist nie Selbstzweck. Beim künstlerischen Modell tritt neben das Kriterium der Ähnlichkeit das der Assoziationskraft. Diese doppelte Verwendung eines einzelnen Zeichens entspricht der Konnotation, wie sie Roland Barthen eingeführt hat. Symmetrie ist, daß uns am Symmetrischen das Nicht-Symmetrische auffällt und fesselt. Demzufolge ist es nicht die genaue Übereinkunft des Einen mit dem Anderen, die vollkommene Identität zweier Erscheinungen, was die Aufmerksamkeit erweckt, sondern die Differenz zweier sich gegenüberstehenden Realitäten. Gerade in der Abweichung vom Gleichen liegt also der Reiz der Verführung.


In gleicher Weise akzentuieren die 50 Laminate Büchlers den für den Menschen so wichtigen Raum zwischen dem Bild und der Realität. Auch hier geht es nicht darum, die Dinge ihrer zeitlichen Vergänglichkeit zu entreißen, um sie zumindest in Gestalt ihrer Reproduktion zu bewahren.


In zwei Stahlrahmen mit jeweils fünf Querverstrebungen werden 50 in Kunststoff eingeschweißte, computerüberarbeitete Fotografien aufgereiht. Ausgangspunkt für die Montagen sind Fotografien aus der Schwetzinger Schloßanlage, wobei Büchler bewußt auf einen umfassenden, repräsentativen Bildausschnitt als Stilmittel verzichtet. Statt dessen werden – meist ausschnitthaft – Säulenfragmente, Siegel, Geländer, Planreliefs oder Deckenstrukturen ins Visier genommen. Das barocke Formenarsenal kann dann im Computer durch Drehungen und Spiegelungen zu größeren Strukturen, Sequenzen oder ganz neuen Ensembles zusammengesetzt werden, wobei unter- und überlegte Folien die klassizistischen Prinzipien der regelgeleiteten Reihung und Ornamentierung zusätzlich neu semantisieren. So entsteht »im Geiste des Barock« ein neu vermessenes, neoklassizistisches Pantheon, ein Reich klassischer Schönheit, Harmonie und Maß. Doch fordert der erhabene Anspruch des Klassizismus Ironie geradezu heraus. Büchler konfrontiert die hehre Idee, daß das richtige Verhältnis der Teile zu einander, daß das richtige Verhältnis der Teile zum Ganzen sich vernünftig benennen läßt, mit den grell-bunten Folienstrukturen, die den Laminaten einen entrückten, märchenhaften Charakter verleihen: Alice im neoklassizistischen Wunderland!


Der Klassizismus muß als Gegenpol der Moderne verstanden werden, auch wenn er zur Zeit der Aufklärung der Vernunft geschätzt wurde. Das heißt, die Entstehung der modernen Kunst vollzieht sich wesentlich als Abstoßung von den Klassizisten, als Heraustreten aus dem idealistischen Bann und seiner Verbotslogik, als Hinwendung zum Realismus und zum Wahrnehmbaren. Der Avantgardismus ist nahezu ausschließlich antiklassizistisch. In diesem Kontext haben die 50 Laminate Gert Wiedmaiers nur noch rudimentären Bezug zum Barock. Zudem werden die klassizistischen Zitate mit Aufnahmen aus dem heutigen Stadtbild konfrontiert, so daß bewußt das Prinzip der Ungleichzeitigkeit zwischen den einzelnen Fotos aufscheint. Noch mehr als bei den oben beschriebenen Stahlblecharbeiten werden die auf Kopierfolien gezogenen Schwarzweißfotos mit Pigmenten, mit Lack und mit Bleistiften bearbeitet, erschweren so den Wiedererkennungseffekt dem Betrachter erheblich und bewegen sich teilweise in Richtung des autonomen, informellen Bildes. Man meint, eine Figur zu sehen, aber es ist etwas Abstraktes, oder man sieht einen Fleck und ist nicht ganz sicher, ob er nun etwas bedeutet oder ob er bloß als amorphe Form existiert. Figürliches scheint wie zufällig in einem Bildraum aufzutauchen, in dem Farben Tonlagen einstellen, in denen Linien Spannungsbezüge markieren. Die Fotos werden so zu Arbeitsfeldern, in denen sich Spuren eingegraben haben. Es sind dann auch vor allem Oberflächen, Wandstrukturen, Spuren oder Spiegelungen, die Wiedmaier bei seinem Gang durch Schwetzingen mit der Kamera festgehalten hat.


Die fotografische Notation richtet sich an das Gedächtnis, beschwört die Vergangenheit der Gegenwart, da daß, was anschaulich festgehalten wurde, im Bild anwesend und zugleich abwesend ist. So zeigt jede Fotografie einen Zustand von Welt, wie er nicht mehr existiert. So ist in jeder Fotografie unweigerlich eine Ahnung von Tod eingeschrieben. Einen direkten Bezug zum Tod hat die 12-teilige Installation »libera me«, die Wiedmaier als Stipendiat der Landesgraduiertenförderung im Frühjahr 1995 vorstellte. In der typischen Mischform von Plastik, Foto und Malerei werden Notenständern ähnliche Gebilde vorgestellt, die anstelle der realen Partitur Fotos von verheerenden Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges zeigen. Unterlegt sind die Dokumente von Zerstörung, Leid und Tod mit Teilen der Partitur »libera me« aus dem War-Requiem des englischen Komponisten Benjamin Britten. Die Besinnung auf Gedächtnis, auf kollektive wie partikulare Erinnerung scheint zum Überleben in einer ahistorischen Medienlandschaft und Schlagwortzivilisation notwendig. Gegen das überhandnehmende Vergessen von Herkommen und Historie wird Kunst zum Gedächtnis. Nicht als abrufbare Datenbank, diesem Zauberstab passiver Hirne, sondern durch Gestaltung, die Reaktionen auslöst und Fragen stellt. Von diesem Ansatz her sind Orte Speicher der Erinnerung, die es durch wechselnde Anordnungen, durch Ausstellungen zu reaktivieren gilt. Deswegen spielen in der Gegenwärtigen Kunst, seit Brancusis berühmten, im Museum nachgestellten Atelier, Orte eine wachsende Rolle, in sich stimmige Stätten, die der Künstler – vorbildlich hier Giacometti in seiner zugestaubten Skulpturenhöhle – wie eine zweite Haut um sich legt. Es sind Zufluchten, private Welten, gewiß, aber sie liefern angesichts allgemeiner Aufsplitterung und Banalität auch Beispiele denkender, imaginativer Selbstbehauptung. Die Installation »Akademische Wandstücke« von 1994 dokumentiert auf ungewöhnliche Weise Wiedmaiers langjährige Studienzeit an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. Fotos von Wänden der Akademie, die noch Spuren von auf- oder abgehängten Bildern oder direkte Bemalung zeigen, werden auf fotosensibilisierte Glasscheiben übertragen, mit einem Meßraster überzogen und auf 16 Metallwürfeln befestigt. All dies wird natürlich leicht ironisch und mit einem Hang zu scheinbar objektiver, selbstlos asketischer Dokumentation gehandhabt.


Bei Walter Benjamin findet man die Überlegung, daß nicht nur der Mensch mit Sprache ausgestattet ist. Weil Gott nämlich die Dinge durch Worte geschaffen hat, besitzen sie auch ihre Sprache und dadurch ihre eigene Geschichte. Da die Totalität des Dinges im Kunstwerk nicht faßbar ist, lassen sich unter der Maxime »Geschichte der Dinge« nur Fragmente und Episoden behandeln. Doch resultiert aus dem bildnerischen Prozeß der Näherung und Nicht-Faßbarkeit eine Kontinuität das Begehrens, die letztlich auf eine Beherrschung der Natur verzichtet. Als Uwe Büchler im Frühjahr 1995 an den Waiblinger Landeskunstwochen teilnahm, die den Arbeitstitel »Kunst macht Natur/Natur macht Kunst« trugen, ging er von der Überlegung aus, daß die künstlerische Praxis nicht auf eine reine und unberührte Natur als normative Basis zurückgreifen kann. Nahezu jeder vorgefundene Naturzusammenhang ist heute das Produkt einer oft sehr langen Interaktion zwischen der Kultur und ihrem gegebenen Umfeld. Natur trägt als bearbeitete und vielfältig genutzte die Spuren menschlicher Geschichte. Was heute als solche wahrgenommen wird, ist oft nur das Resultat ihrer Deformation und ihres Verschleißes.


Als das ganz andere der Zivilisation ist der Naturraum heute also verschwunden. Die ästhetische Praxis folgt so nicht einer Logik der bloßen Angleichung an eine bereits offen vorliegende oder freizulegende Substanz. Nach ihrer Zerstörung existiert Natur im Sinne eines lebendigen Zusammenhanges nur noch als Idee in den handelnden Subjekten. Natur ist so gesehen eine erst wieder zu verwirklichende Sphäre.

Durch die Waiblinger Talaue hat Büchler eine Straßentrasse gelegt, bei der die Seiten- und Mittelstreifen aus frisch gesätem Weißklee bestehen und der Straßenverlauf auf der Wiese zusätzlich mit farbig markierten Pflöcken abgesteckt wurde. Die »Natur-Kunst-Straße« ist ein Paradoxon, da die Wiese die Straßentrasse nicht in den Naturzustand zurückführen kann – sie ist ja per se Natur und gleichzeitig auch wieder Kultur. In der Verbindung von konkreter Interaktion und reflexiver Thematisierung verwirklicht der ästhetische Prozeß Büchlers ein szenisches Geschehen, in dem exemplarisch vorgeführt wird, daß und wie eine Annäherung des Menschen an die ihm entfremdete Natur möglich ist. Kunst, die die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung auslotet, bildet einen Ort des Experiments im Dienste der Entwicklung von Modellen einer alternativen Praxis. In dieser Weise ist der künstlerischen Produktion das Moment des Negativen eigen. Aufgrund des in ihr sichtbar Vorgeführten legt sie eine Veränderung auch des außerästhetischen Handlungsraums nah.


Von einem posttechnischen Zeitalter kann noch keine Rede sein, auch wenn die Technik inzwischen eine Domäne mit einer eigenen Geschichte ist, so daß man Erinnerungen und Zitate der alten Technik, ja eine Technik-Archäologie, entstehen sieht. Daraus lassen sich immer grundverschiedene Schlüsse ableiten. Einerseits erwächst daraus die Utopie, die Kunst in reiner Technik auszulösen und damit den Selbstausdruck des Menschen entgültig abzuschaffen. Andererseits entsteht allmählich die Einsicht, daß auch die Technik inzwischen persönliche Ausdrucksmittel bereitstellt, mit denen ein Künstler so arbeiten kann, wie er einst mit Palette und Pinsel gearbeitet hat. Büchlers Wandarbeiten »Standbilder I und II« zitieren die Geburt und den vermeintlichen Tod »Aliens«. Nach Videostandbildern werden vergrößerte Farbfotokopien montiert; die schwarzglänzenden Plexiglasstreifen erinnern bewußt an Filmbild-Rasterungen. Der Film ist heute nicht immer ein Endprodukt, sondern nur wieder ein Reservoir für neue Produkte. Diese Prämisse führt eine neue Gattung des Kommentars ein. Büchlers Fotokopie-Epilog ist nicht nur ein Kommentar der anderen Gattung »Film«, sondern auch eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Das Verfahren ähnelt der alten Collage und geht doch, im beliebig veränderbaren Motiv und in der Wahl von beliebig vielen Motiven, weit darüber hinaus. Während die Filme sonst aus einem Drehbuch entstehen, das wir vergessen sollen, handeln die vier Fotokopien über einen Bild-Text, der sein eigenes Drehbuch ist. Deswegen müssen wir die Geschichte von »Alien« auch nicht unbedingt kennen.


Obwohl die Kunst im Zeitalter der Posthistorie angekommen ist, bleibt die ästhetische Innovation ein Wunschbild, das sich heute vielleicht dadurch erfüllt, daß man das Medium und die Technik wechselt. Wählt man zum Beispiel, statt eines Gemäldes, eine Videoinstallation, so kann man sogar alle Gemälde zitieren, ohne damit gleich dem Verdikt der Nachahmung zu verfallen. Solange man im gleichen Medium blieb, war die Neuheit nur auf Kosten der Unähnlichkeit mit den vorhandenen Vorbildern zu erreichen. Man mußte das jeweils Neue immer mit alten Mitteln herstellen. Heute scheint das Neue schon in der Wahl der Mittel zu liegen, mehr als im Inhalt und in der Idee. Deswegen können sich Medienkünstler, die mit Fotos und Filmen arbeiten, an Themen des Menschen und der Gesellschaft versuchen, für welche die professionelle Galeriekunst des Westens keinen Ausdruck mehr besitzt. Büchlers Projekt »Gradierwerk« ist eine Videoinstallation, die sich mit Europas ehemals größtem Gradierwerk bei Schönebeck in Sachsen-Anhalt auseinandersetzt. Die riesige Anlage diente der konzentrierten Salzgewinnung, indem man die Sole über Schwarzdornreisigbündel tropfen ließ, wodurch die Wasserverdunstung beschleunigt und so der Salzgehalt der Sole erhöht wurde. Die Videobilder zeigen in ausgesprochen ruhigen Passagen verschiedene Perspektiven des Gradierwerks: Die herabfließende Sole, die Innenfluchten des Werks, eine lange Einstellung durch das Innere des Gradierwerks vom Solebecken aus, Perspektiven der Gesamtanlage, Einzelstrukturen, Details der Balken, Salzablagerungen etc. Beim Betrachten der meditativen Bilder wird man schnell auf ein Problem aufmerksam: Die produzierte, gesendete künstliche Zeit und die rezipierte, erlebte Zeit sind zwei gegensätzliche Zeitbegriffe.


Allen hier besprochenen Werken von Uwe Büchler und Gert Wiedmaier ist gemeinsam, daß sie versuchen, die Gegenwart mit Hilfe der Rekonstruktion von Vergangenheit, der Projektion des Gewesenen zu verstehen. Allen gemeinsam ist eine besondere Empfindung für Zeit, für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zwar in dem Sinne, wie Gottfried Benn schreibt: »Wer mit der Zeit mitläuft, wird von ihr überrannt, aber wer stillsteht, auf den kommen die Dinge zu.«



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