materia troïka

Gradierwerk


Corinna Hartt/Marc Trantoni/Martin Conrath

Logisches Salz

Materia troïka:
Von Überlegungen zur Geschichte des Salzmotivs in Schönebeckschen Bildern
zu Uwe Büchlers Projekt Gradierwerk

Nach guten experimentellen Erfahrungen mit gemeinsam ergänzten und montierten Texten hatten wir uns entschlossen, den hier vorgelegten nicht alleine nur in sich, mit gleicher Technik bearbeitet, zur Diskussion zu stellen, sondern zum ersten Mal einen neuen Schritt zu wagen. So sollte die an den Text und uns angetragene Diskussion von außen Eingang auch in die Konstruktion finden, die damit zur Disposition stand. Einwürfe, Korrekturen, Kommentare und Ergänzungen konnten aufgenommen und eingearbeitet werden, sodaß am Ende des Ausstellungsprojektes materia troïka ein Text als interaktives Ergebnis entstanden war. Wir möchten allen an dieser Arbeit Beteiligten danken. Ihnen seien die folgenden Überlegungen gewidmet.


In Schönebeck wird Salz gemacht. Einerseits. Aber auch wird in Schönebeck wegen des Salzes gute Luft gemacht, andererseits. Was nun, da dieses Salz niemand mehr braucht, bedeutet, daß sich die Gründe, weswegen die Luft gut ist, im Laufe der Zeit wohl geändert haben.

Sollte man infolge dessen nun Salz und gute Luft in gutem Wissen derart verwechseln können, daß einzig noch ein Geist, der aus Geschichte wehte, die differentesten Umständlichkeiten ineinanderzuflechten in der Lage wäre? Und gleichermaßen damit ebnete, obwohl komplexe Kunst sich jetzt und hier der guten Luft, dem Salz und der Werkstatt zu beidem, dem Gradieren, verschrieben hat? Nichts, wenn Kunst Geschichte macht, nähme noch Wunder. Gelängen also einer Geschichtsschreibung damit Wunder?

Wenn prinzipiell dem Ansatz zuzustimmen wäre, daß der Aufzeichnung von Geschichte eine besondere, durchaus vertrackte Bewußtseinsspaltung eigen ist, die, indem sie Dinge durch Handlungen und Handlungen durch Dinge substituiert und damit gleich auch beider Kriminologie zu erfinden genötigt ist, eben dann jenem aber auf den Leim geht, das sie vermeiden wollte, der Symbolisierung, dann wäre, wenn zugegebenermaßen noch kompliziert, in einem Satz schon umrissen, welche Problematik das Schreiben von Geschichte ambivalent und taktisch bestimmt: es sind die mühsamen und notwendigen Aufzeichnungen von Dingen, deren vergangener Gebrauch nicht mehr erkennbar ist, oder von Handlungen, deren direkte Folgen nicht mehr wahrgenommen werden können, und es ist der Gebrauch von Medien, Hilfsmitteln und Zeichen, in deren Projektionen Vergleiche oder Ähnlichkeiten das Verständnis bilden sollen, mit dem symmetrisch zur angenommenen geschichtlichen Wirklichkeit die Wirkung von Geschichte auf Heute bezeugt werden könnte. Wenn das so stimmte, wären alle an der Forschung um die Problematik Beteiligten fein aus dem Schneider, denn ihnen wäre ne ben der Objektivierung geschichtlicher Daten und Quellen auch noch gelungen, was den Reiz einer überbauten Wirtschaft des Wissens allgemein ausmacht, der Mehrwert durch interpretatorische Arbeit. Mit dem lieferten sie, gesetzt als Interface, sich selbst in Überlagerung mit vorhandener Ge schichtsschreibung einen Anlaß, die logisch wie psychologisch notwendige Selbstbestätigung und daraus abgeleitet eine Rechtfertigung der eigenen Forschung, die, da mit vergleichender und jetzt gesetzmäßiger Schlüssigkeit operierend, dann auch Erfolg, weil interferierende Wirkung zeigen muß. So wär es gern, so ist es aber nicht.

Hübsch an dieser Idee, weil verführerisch, ist aber doch der Gedanke, daß durch eine Tätigkeit und deren kontextueller Bestimmung sich Information und Theorie wie selbstverständlich aufbereiteten, sich also die Regeln zur Abstraktion der Tätigkeit von selbst ergeben könnten. Immanente Voraussetzung da für wäre die Annahme, Information könne, gestimmt oder pointiert und mit einem Kreislaufmodell verquickt, konzentriert und dekonzentriert werden: dem entspräche dann das Gradieren. Selbstreferenziell würden wir diese Regeln dann auch erkennen und in eben jenem Moment, in dem wir unsere Tätigkeit ausübten, wären wir, zwar mehr Gläubige als Metaphysiker, immerhin aber um das Ritual des Verstehens reicher und wenigstens auratisch aufgeklärt. So sind die Regeln von Spielen, von denen in Medien allemal.

Ein Experiment, wie wir es in Büchlers Mediengradierwerk sehen, kann das verdeutlichen.

Setzen wir einerseits [Sole = Salz + Wasser] und andererseits [gradieren = Sole - Wasser], so läßt sich leicht ersehen, daß daraus [gradieren = Salz] bedeutet folgte. Der Form nach logisch betrachtet ist das unsinnig, phänologisch hingegen ergibt es Sinn unter der Voraussetzung, daß das Gleichheitszeichen mit anderer Bedeutung gedeutet wird als bekannt. Es dürfte nicht „gleich“ heißen, sondern „bedeutet“ oder „hat zur Folge“, worin sogleich sich eine entscheidene Differenz zwischen Handlungslogik und Begriffslogik bemerkbar macht. Da wir jedoch verstanden haben, was bedeutet wurde, und über die vagen Ungereimtheiten aus fehlenden Quantitäten sich charmant noch schweigen läßt, scheint, da zudem jeder Term der Gleichung definiert ist, der Fall geklärt. Einem Kind würden wir die Leistung honorieren, obwohl sich nicht Gleichheit sondern ein Rest ergeben hat, das Spiel folglich nicht aufging.

Mit der Ignoranz, in eben jenem Rest eine Differenz anzuerkennen, mit der das Spiel ein neues würde, eines um den Rest und daher mit unvorhersehbaren Möglichkeiten, damit wird üblicherweise von kommentatorischer Seite, der also jeweils regelnd zeigenden, eine Chance vertan, einer besonderen Sensation nachzuspüren, die zudem selten nur noch aufscheint: die Verführung der Verführung. Oder aber, mit anderen Worten, und da sei die Gleichheit außen vor, einer logischen Verführung der Logik nachzustellen, um derentwillen bekannte Aufregungen sich festmachen und auch vorstellen ließen.

Zu den klassischen Übungen abstrahierender Systeme gehört aber bindend ihre symmetrische Selbstreferenz hinzu, zu den klassischen Erfahrungen experimenteller Handlungen zählt sich ebenso bindend die Ausnahme. Daß jene die Regel bestätige, mit der die Bindungen der Erfahrung an solche der Regeln ausgesetzt würden, ist eine der absurdesten Überkompensationen eben jener Differenz, von der schon die Rede war. Eine Regel, die sich bestätigt, indem sie sich ausnimmt, versucht nämlich zu schlichten, was Handlungen mit Vorschriften nicht gemein haben. Deren Differenz wird damit indifferent übergangen, dem Verständnis entzogen, die Nicht-Logik somit plausibilisiert. Dem entspricht der Trott mechanischer Erfüllungen: mit Speck fängt man eben Mäuse, aber vom Salz der Logik sollte doch die Rede sein.


Ersetzen wir nun in unserem Experiment den Begriff [gradieren] richtigerweise durch die Beschreibung der Handlung, die er bezeichnet, und substituieren wir das Zeichen [=] mit [bedeutet], so erhalten wir: „[konzentrieren einer Salzlösung durch Verdunstung] [bedeutet] [Salz]“ und nähern uns dem Sachverhalt ganz wesentlich. Auffällig ist aber schon jetzt, daß, kennzeichnend für Handlungen, die Zeichenbeziehung nicht mehr umkehrbar ist, jedenfalls nicht mehr mit eindeutigem Ergebnis. Denn „Salz“ [bedeutet] nicht ausschließlich die Möglichkeit seiner „Gewinnung durch Verdunstung“. Je genauer wir infolge dessen fassen, was wie bedeutet wird, umso geringer wird die Chance, das Spiel mit der Indifferenz auch spielend zu überstehen und umso präziser geben sich hingegen die Regeln, nach denen gehandelt werden muß. Wer mit jenen dann zu spielen vorgibt, vertauscht oft genug nur Ursache mit Wirkung und hat dann das Nachsehen, weil eine solche Beziehung nur von Effekt wäre, wenn je ein perpetuum mobile auch laufen würde. So einfach aber ist der Ausstieg aus vertraglichen Regeln nicht. Da, diese Bedingung gewendet, die Regeln nicht sich selber spielen, sondern beschreiben, was wir sehen und was wir wissen wollen, könnten Ausnahmen, zufällige Verführungen von Regeln, damit aber auch Fenster in der Logik sein, nähmen wir sie ernst.

Jetzt, wo der Ort der Theorie schon beträchtlich in die Nähe eines Namens gelangt ist, könnte folgender, zugegebenermaßen schon vorbereiteter Einschub gelingen und später noch von Nutzen sein:
a: der Text, dieser, muß sich selbst überführen, da logisches Salz eben nicht auch unbedingt und aussichtsreich das Salz der Logik ist.
b: Der Text, jener, der noch kommen wird, überführt Salz und Logik eigenster Differenzen und muß die Figuren durch eine Handlung vermitteln.
c: Ein Text, der jenseits der beiden anderen steht, hat beide Forderungen eingelöst, sie bereits mit einem „Ich“ infolge dessen und einem „Und“ hinzuzählender Korrekturen schon übersetzt und gerät dialogisch.
d: Eine nicht genauer zu bezeichnende Anzahl unterschiedlicher Texte verschiedener Herkunft enthält bereits Lösungen des dialektisch-dialogischen Dilemmas, die somit zu sammeln und durch Fingerzeige bedeutet dann schon archiviert werden könnten.
e: Verliebtheiten verschiedenster Art unterbrechen die Lektüre.
Man wird auf diese fünf Möglichkeiten noch zurückkommen müssen.

Vorab, zur Klärung einiger noch ungeklärter historischer Punkte wegen und zur Erhellung des Hintergrundes unserer Überlegungen ein Zitat von auch regionaler Bedeutung. Es gab den Anlaß zu dieser Untersuchung und entstammt der ansonsten leider wenig brauchbaren Biografie des Hans Georg Salbeck, die Johann Christoph Selbysser 1930 in Halle vorlegte. Gegen Ende der Schrift heißt es:


„Am 21. Januar des Jahres 1719 verlor Hans Georg Salbeck auf einer Dienstreise, und dabei fast schon in Torgau angelangt, beim Anblick unzähliger Schneeflocken, die auf der Scheibe des Wagenschlags in rinnende Tropfen umschmolzen, zwischen zwei Lidschlägen plötzlich und hernach unwiderruflich, sein Gehör. Nachdem die den Vorgang begleitende jähe Beklemmung in der Halsgegend, ein hitziger Schweißausbruch und der trockene Mund sich gegeben und Salbecks begabter Sinn für die empfindsamen Sensationen tastender Fingerkuppen sowie seine ruhige aber ansonsten anteilslose Art sich über die Augen zu streichen sich eigens wieder eingestellt hatten, beobachtete er, daß die eben noch schmelzenden Flocken auf dem nun lautlos begleiteten Fluß nach unten, zur Fensterkante hin, jetzt anhielten, nacheinander, und daß das dabei erscheinende angehaltene Bild einer gleichmäßig beperlten Scheibenfläche sich nicht mehr veränderte, obwohl, und am Schaukeln des Wagens sah und spürte er es, obwohl die Tropfen dazu den üblichen und bekannten Anlaß hätten haben können. Wie gewohnt, denn er beging seine Dienstreise nicht zum ersten Mal, kehrte er nach Ankunft in Torgau in jenem Gasthof ein, den er im Ort bevorzugte und begab sich, der erlebten Vorkommnisse wegen müde und beunruhigt, gleich zu Bett. Benommen, auch von der stickigen Luft im Schlafraum, schlief er, von den Tropfen träumte er und wäre fast im Traum auch von der Wirtin überrascht worden, wenn mit dem Bild der sonderbar unbeeindruckten Wasserperlen auf der Scheibe nicht Unruhe und die Erinnerung an die Erlebnisse wieder aufgekommen und er daraus dann, wiederum benommen und mit einem unerklärlich leichten Salzgeschmack im Mund, erwacht wäre. Ein lautes Klopfen hatte er nicht gehört. Zwei Tage noch versuchte Salbeck, dem ihn beeindruckenden Bild und der davon unbeeindruckten aber erstaunlichen Ruhe um ihn herum anteilslos zu begegnen und seinen selbstgewählten Beruf als Inspektor von Dämmen und Kanälen nachzugehen, dann aber verließ ihn, wie auch andere, das Gedächtnis.

Erste unklare und eigenartig sequentierte Erinnerungsbilder tauchten in ihm erst wieder am 12. Oktober 1917 auf, als er sich, die Unterarme streichend, auf einer Bank in der Nähe des Gradierwerkes von Schönebeck wiederfand, tropfenzählend und zufrieden mit der Luft. Sein Erinnerungsvermögen wuchs fort an zwar ständig, wurde ihm aber im selben Maß, in dem sich immer wieder Bilder einfanden, die zur Harmonisierung seiner bestehenden, aber abrupten Erinnerungszusammenhänge paßten, immer fremder und uneigener, sodaß ihm, als man in Schönebeck am Dienstag, den 17. Dezember 1901 den Lauf der Sole stoppte und damit auch die Tropfen anhielt, der Atem versagte und eins wurde mit den Reifkristallen auf Blasecks Brillengläsern, die bis zuletzt er versucht hatte zu putzen. Gesagt hatte er bis just zu diesem Augenblick nie wieder ein Wort.“


Selbyssers eigenwillige Raum-Zeit-Verschiebung biografischer Vorkommnisse im Text muß erstaunen. Entgegen selbst verständlicher wie wissenschaftlich begründeter Zeitauffassung läßt die Biografie Salbeck, der als Inspektor in wohl schon fortgeschrittenem Alter sein dürfte, von Beginn der Schilderung an noch 198 Jahre leben, um ihn dann schon 16 Jahre davor mit Namen Blaseck sterben zu sehen. Begründet wird dieser Schritt nicht. Da es sicher sich jedoch um die Biografie einer historischen Person handelt und nicht um eine literarische Fiktion, und ferner, gleichgültig, auf wessen „Fehler“ die Verwechslungen zurückzuführen sind, Salbeck kaum eine Unwahrscheinlichkeit im Sinne eines Phantoms oder gar einen Geist der Geschichte darstellen kann, könnte sein Biograf einer jener „Spieler“ sein, die aus noch zu entdeckenden Gründen der Authentizität von Geschichte strategisch begegnen, um in den Resten aus gleichen, nicht aber selben Quellen einen Zusammenhang zu setzen. Solche Setzungen wären, um eine zeitverwandte Position zu bemühen, bereits mit Heidegger sowohl immanenzbestimmt als auch extrovertiert je in Jetzt-Zeit noch zu integrieren. Darüber hinaus könnten bekannte künstlerische und mathematisch-physikalische Entwicklungen zwischen 1920 und 1930, der angenommenen Entstehungszeit des Textes, für die Verkehrung des Zeitpfeils entscheidende Impulse freigesetzt haben. Eindeutig ist dies leider nicht mehr zu rekonstruieren.

Faszinierend aber an der Fortschreibung dieses an sich unwahrscheinlichen Durcheinanders ist, daß, der verwirrenden Verkehrung entgegengesetzt, die Dinge unbehelligt für sich oder unverständlich einfach in ihrer Kontinuität belassen werden. Salbecks Vision einer mit Wassertropfen beperlten Scheibe, auf der sich die Tropfen trotz mechanischer Erschütterung nicht bewegen, wird, obwohl selbst für Salbeck eindringlich, nicht besonders beachtet und wird, korrespondierend mit dem Reif auf Salbecks Brille, mit dessen Tod unkommentiert abgeschlossen und auch weiter nicht verfolgt. Der Autor konzentriert sich auf die präzise Schilderung abgelaufener Bildsequenzen und findet offenbar geringes Interesse für Erklärungen und Hintergründe des historischen Geschehens. Daß der Urheber des Textes, um unser Thema der Logik wiederaufzugreifen, gar nicht um logische Verhältnisse be müht wäre, ließe sich, bis eben auf die Ausnahme der skizzierten Raumzeitverschiebung, jedoch nicht nachweisen. Im Gegenteil: der Ablauf der Beschreibung erfolgt entsprechend der einzelnen Bildsequenzen detailgenau und, soweit zu überprüfen, sachlich richtig und nimmt vorsichtige Rücksicht auf die flüchtigen Sinneseindrücke des Menschen Salbeck. Kommentatoren der Schrift, wie Müller 1935, Langenhagen 1950 oder Schrödinger 1954 verweisen in diesem Zusammenhang zwar mit Recht auf die Möglichkeit, Selbysser könne Opfer ideosynkratischer oder gar pathologischer Dissoziationen sein, und sei damit als Autor auch zu disqualifizieren, sie unterschlagen jedoch die Möglichkeit, daß es sich bei der „Fehlleistung“ beispielsweise auch um Druckfehler oder willkürliche Vertauschungen des Setzers handeln könnte. Sie unterdrücken ferner, daß mit der Umkehr der Zeitverhältnisse und der parallel einhergehenden Desynchronisierung des geschilderten Raumes eben jene verschwinden machende strukturelle Differenz einer getauschten Biografie erarbeitet sein könnte, mit der in der ansonsten indifferent geschilderten Lebensgeschichte Salbecks Elemente der Moderne schon sich vorzeigten.

Statt also den bislang noch nicht erklärbaren „Fehler“ verschobener raumzeitlicher Bedingungen als „Leistung“ anzunehmen und weiter zu extrapolieren, um an der Grenze zur Unwahrscheinlichkeit oder eigener Stringenz auch eigener Logik mißtrauen zu können, wird in der Sekundärliteratur bislang stillschweigend übergangen, daß eben jener „Fehler“ begleitet wird von erstaunlichen Leistungen. So verbirgt sich im Namen „Blaseck“ am Ende der Schilderung sehr wohl noch anagrammatisch „Salbeck“. Auch die Datumsangaben verwandeln die stets selbe Ziffernreihe in nur andere Folgen, sodaß überraschenderweise der Schluß gezogen werden darf, daß Autor wie auch Setzer auf einer neuen, vorerst virtuellen Ebene, korrekt gearbeitet haben. Erhärtet wird diese Behauptung durch die Ergebnisse der Arbeit Mayers aus dem Jahre 1992, die zeigen konnte, daß Selbysser die Biografie im Eigenverlag auflegte und die Drucklegung selbst überwachte. Der damit manifest zu machenden Vexierfigur Selbysser/ Setzer im real historischen Raum steht korrespondierend die Doppelfigur Salbeck/Blaseck im authentisch-möglichen Raum gegenüber. Die Hypothese virtueller Komponenten, deren offenbare Konstruktion gängiger Erinnerungserwartung widerspricht, darf mit der Deutung des Glasbildes als dinghafter Entsprechung möglicher Welt wie folgt umgekehrt werden: nicht handelt es sich mehr um die Konstruktion der Erinnerung als erinnerte Rekonstruktion des Vergessenen, sondern es darf, da die Scheibe un veränderlich die übrige Handlung übersteht, diese sozusagen erst zukünftig parallelisiert, gegenwärtig jedoch ignoriert, angenommen werden, daß, um die ge spie gelte Konstruktion des Verschwinden-Könnens zu evozieren, mit Glasscheibe und darauf fixierten Tropfen – erneut überschrieben mit Brillengläsern und Reifkristallen – gezielt ein Palindrom als Todesbild eingeführt wird. Auch die anagrammatische Datumsangabe setzt einen vergleichbaren, bewußten Bildreflex frei. Zur meditativen Umkehr dieser Pathosformel gelingt dem Text die vor dem bedrohlichen Hintergrund befreiende Vexation des Zeit-Raumgefüges im Bild eines Identitätsverlustes in selbstvergessener Elementarisierung, indem im Todeszeitpunkt das bewußte Unglück ortloser Seinsaufgabe gewendet und in geläuterter und, weil in befreiende Gestaltlosigkeit transponiert, eher glücklicher Bewußtlosigkeit aufscheint: als „Blaseck“ stirbt die Figur allein metaphorisch, nicht jedoch als Salbeck, der, historisch au thentisch, damit nur „sich selbst vergäße“. Dies Vergessen gerät substanziell und überwindet das Spielfeld unzähliger Attribute geschichtslos versetzt. Der in Salbecks unvermittelten Aufenthalten abhandene Zwischen raum, die zeitlichen Lücken in seiner Erinnerung, die, wären sie gefüllt, beide unabdingbaren Voraussetzungen für eine Kontinuität wären, offenbaren jeweils jene Erinnerung an Tod, die bewußtlos ist. Applizieren wir hieran Freuds Überlegung, das Unbewußte sei an sich zeitlos, so darf gefolgert werden, daß dem Text ohne romantisch apotheotische Bilder bemüht zu haben, eine eindringlich dichte Verschränkung konkreter wie subjektiver Erlebenssituationen mit dem jamais-vu vergeblich reflexiver, aber an sich erfahrbarer Todeserinnerung spielerisch eigen ist. So dürfte im Sinne der Moderne von einer Befreiung ins Unbewußte überhaupt die Rede sein. Einer solchen Unbewußtheit eignet wie selbstverständlich das reflexionslose Verschwinden des eigentlichen Erinnerns an sich selbst. Um den Schein des Vorbewußten in konkrete Anwesenheit zu fassen und einer psychoanalytisch abzuarbeitenden „zukünftigen Vergangenheit“ begegnen zu können, schaut Salbeck gewissermaßen durch das Bild einer im Ortlosen auchangehaltenen Welt aus der Zeit in den Raum. Man darf dabei wiederum an Heidegger denken: „Denn die Zeit bleibt selber die Gabe eines Es gibt, dessen Geben den Bereich verwahrt, in dem Anwesenheit gereicht wird“. Inwieweit auf dieser Ebene dann eine in durch Zeit strukturierte Identitätsproblematik zwischen Selbysser und Salbeck aufscheinen muß, wäre gewiß noch ebenso zu untersuchen, wie Salbecks schließliche Wortlosigkeit, würde den Rahmen unserer Ausführungen hier jedoch sprengen.


Nun müssen wir, da etwas außer Atem, mit einer Pause beginnen, die Gegenstände unseres Interesses neu zu ordnen: mit Salz und Luft als Elemente, der Zeit als kategorialem Vektor von Handlung und Prozessen und einem Raum zu ihrer Konkretisierung wurde begonnen und noch galt die einfache Logik reversibler Beziehungen. „Salz“ konnte beispielsweise auch als Salz der Logik dialektisch gewendet gehandelt werden. Mit der Bemühung, davon allgemein für eine Theorie einerseits und konkret für eine Geschichte andererseits Gelegenheiten zur Aufzeichnung zu schaffen, entstanden die zwar schillernden, aber irreversiblen Erscheinungen ausgeübter Logik. Deren Vexierspiel ist eben nun Spiel von Attributen, nicht aber der Substanzen. Primären Differenzen stehen somit formale = attributive gegenüber, die, uneingeschränkt, da auch virtuell möglich, also unendlich in ihrer Zahl zu bilden sind. So entnehmen wir einer konkreten Geschichte Quellen und formen daraus zahllos Attribute der Vergangenheit, und so macht zwar die Aufzeichnung von Geschichte keine Wunder, wie anfangs gefragt, hat aber lebhaft Anteil an einer wundersamen Vermehrung kommentatorischer Attribute. Salbecks ohne-Welt-sein führte uns zu guter Letzt als Beispiel letzter Konsequenz in die Gefilde samt und sonders transzendierter Substanz, lieferte jedoch den logisch erstaunlichen Rest von divergierenden Raum-Zeitorten. Nichts hatte nun mehr Ort und Zeit gemeinsam.


Die Schönebecksche Sole, Ursache für den Bau eines Gradierwerkes, enthielt, wie noch heute, Salz. Dieses Salz war substanziell. Heute zum Attribut, zum logischen Rest verkehrt, um den sich Geschichten spinnen können, erscheint es auf den Bildschirmen spekulativer Mehrwertverteilung mittelbar. In seiner attributiv Schönebeckschen Variante dient es Forschung, Politik, Tourismus, Wirtschaft, Kunst und Medizin unendlich effizienter als substanziell es zu vermarkten gewesen wäre und es ist, obwohl als Wirkung von Substanz nurmehr ionisiert bedeutsam, von appetitanregender Medialität. Transsubstanziell alleine einer Sendung verpflichtet und nicht mehr rückzukoppeln, wird es Bedingung von Struktur: ein Interface. Darin zudem entleibt, gerät dasselbe logisch: unabwendbar abstrakten Wandlungen ausgeliefert, gebunden an distributive Differenzierungen, transzendiert durch die Quantitäten zugewendeter Interessen, muß zeitlos sich eben rechnen, wenn räumlich man nicht mehr expandieren kann. Salz, und so wären wir am Ende einer Arbeit, Salz kehrte zurück in die Geschichte derer, die seiner habhaft werden wollten und denen es noch nicht nahe war. Wieder würde es grau. Grau wie flimmernde Bildschirme, kosmisches Hintergrundrauschen, die Theorie, das Wort, die Tarnung, und endlich dann auch grau wie die Bedeutung seines Namens: sal. Die Sache selbst, das unreine Ding der Geschichte, verschwindet jetzt im Wort aus dem es stammte, wird ortlos, zeitlos und, weil versetzt, gesichtslos. Dem Ende der Geschichte, das Flusser einmal vor sah, folgte dann eine Welt der Logik, die aber, bar ihrer substanziellen Erinnerung, ihre Medien nurmehr attributiv differenziert und darin selbstvergessen variieren muß. Die langen Arme der Geschichte waren die von Robotern.


Und das wäre das Ende?

Von fünf Möglichkeiten, unseren Text „Geschichte“ weiterzuschreiben oder zu überschreiben, war die Rede. Spielen wir sie endlich durch.

Die Chance, sich selbst zu überführen, ergäbe sich aus Schlüssen der Psycho-Logik: man müßte sich versprechen. Variablen des Über-Ichs differenzieren aber nicht kreativ, sondern nehmen Kommentare vorweg. Es wird also selten sein, daß daraus sich mehr als subjektive und individuelle Lösungen ableiten ließen.

Handlungen zum kollektiven Hoffnungsträger kriminologischer Gewissensgeschichte zu bestimmen, erscheint mehr als zweifelhaft. Sehr schnell gerät da denen das Handeln zum Zeigen, die von sich nichts, von andern aber alles zu wissen vorgeben. Man verspricht sich zwar, hat aber trotzdem Recht. Also auch der Sozio-Logik gelingt alleine nichts.

Bleibt noch der Dialog. Da schon tut sich was. Die Redefehler werden bemerkt und korrigiert, die Versprecher können entlarven. Allein, der Dialog bleibt Rede über Rede, Bildwerk über Bildwerk. Aber immerhin, das tut der Stimmung gut und hilft der Ethno-Logik.

Die daraus angehäuften Begriffswerke dann zu ordnen, zu formen, zu archivieren und zu bedeuten, kommt dem zwar noch passiven, aber schon bewußten Umgang mit den Bildern schon näher und zugute. Derart im Vergleich bemerkten Versprechern ist eher auch zu verzeihen; die sind schon Bild wieder, Spiel, Leistung aus abstrahierter Logik. Sie sind ästhetisch, d.h. logisch ihrer Wahrnehmung nach.


Das alles hatten wir besprochen, es läßt sich finden und heißt, daß eben jedem Argument, solange es Attributen zugeordnet werden kann, entweder ein unbedingtes Jetzt und Hier zueigen ist, oder es sich in der zeitlosen Unbestimmtheit möglicher Reflexe kommentatorisch geben muß.


Dem letzten der fünf aufgeführten Wege wäre noch Genüge zu tun, dem einer argumentativen Verliebtheit. Was wären Verliebtheiten als philosophische Argumentationsform? Romantik allenthalben, und, vermöge des Vermögens dann in die Büsche? Obwohl die schlechteste Idee nicht und auch spielerisch und sehr logisch, meinten wir vom Bild gesprochen zu haben. Eigentlich komplex sind nämlich die Bedingungen des Verliebtseins auch immanent und ebenso selbstverständlich wie selbstvergessen. Sogar Versprechen kann nicht allein geschehen, sondern auch gegeben werden und bedeutet, auch Ort und Zeit dürfen vergessen sein, und entschuldigt fehlt oft sogar das Erinnern. Das alles war es aber nicht. Als nicht berechenbare Möglichkeit einer Textlektüre stehen mit deren spontaner Unterbrechung, Ablenkung und in mit zufälligen Elementen verführenden Subtexten „Textfehler“ zur Disposition, und analog zu dieser strukturellen Beobachtung gelingt daraus ein Argument mit Blick, wenn „Fehler“ objektiv Geschichte präsentieren. Re-Präsentieren, den Fehlschluß gilt es zu vermeiden, können sie allein nur subjektiv und virtuell und wir nennen das Verliebtheit, weil es so charmanter zu verstehen ist. Zu lösen ist damit, bei aller Chance zu Konvergenz und Kontingenz rein garnichts, der Blick bleibt chaotisch, selbst als Begriff für Wissenschaft. Eines aber ist ihm vorteilhafter eigen, als jeder anderen Möglichkeit: sowohl Finden als auch Erfinden gelingt wacher und verführerischer allemal.


Also auch jetzt und hier keine Lösung als die fatalistische?

Abgesehen davon, daß von Bildern die Rede war, und Uwe Büchlers Projekt „Gradierwerk 1995“ konkret den Anlaß zum Rückbezug von deren Medialisierung auf eine Substanz gab, bergen solche Bilder stets Lösungen im Sinne der Verführung. Sie stehen, versprochen, am Anfang und nicht am Ende von Untersuchungen. Es bliebe ihnen, wie auch Kommentaren zu ihnen nur noch eines, aber das schon immer: Fremdheit zu entdecken in der Nähe und Nähe zu leisten im Fremden. Daß das ein dialektisches Verhältnis wäre, ist, bedeutet, das heißt in die Pflicht eigener wie fremder Geschichte genommen, ebensolcher Unsinn, wie eben die Bezeichnung „Gradierwerk“ für einen Luftbefeuchter unsinnig erscheinen muß. Vom Salz war die Rede, vom verschwundenen, und es nähme endlich Wunder, tauchte anderswo es wieder auf, als in der Logik, und allein dort, gezeigt, erschiene Geschichte gewürzt.


Paris, im Juli 1994



1

Johann Christoph Selbysser: Hans Georg Salbeck,
Ein deutsches Leben, Halle 1930

2

Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik, in: Vorträge und Aufsätze 1, Pfullingen 1954, S. 78

3

Es lassen sich beispielsweise keinerlei Hinweise mehr auf die Bestände von Salbecks Bibliothek ausmachen. Noch bis etwa 1942 existent, ging sie offenbar, diesen Hinweis gibt Langenhagen, in den späteren Kriegsjahren verloren.

4

Hagen Müller: Das Bild des deutschen Ostens in zeitgenössischen Biographien, Magdeburg 1935, S. 77f

5

Karla Langenhagen: Vergessene Leben, Bonn 1950,
S. 39

6

Erich Schrödinger: Der Aufbau des Fortschritts,
Berlin 1954, S. 92f

7

Marlene Mayer: Biografie und Repression, Der Zusammenhang von Personenkult und Leihbibliothekswesen in der DDR, Berlin 1992, S. 217

8

Vergleiche hierzu: Jacques Derrida: Die diffèrance in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 31f und: Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 143ff

9

Sigmund Freud: Das Ich und das Es,
Ges. W. Bd.13, S. 269

10

Martin Heidegger: Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 16/18

11

Vilèm Flusser: Die Geste des Suchens, in:
Gesten, Düsseldorf/Bensheim 1991, S. 253 ff.

12

Werner Marx: Zweigleisig, Kunstverein Schwetzingen 1995, S. 13



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